Die Auferstehung von Tschernobyl

In Tschernobyl sollte Europas größter Kernkraftwerk-Komplex entstehen.

Um den Bau und Betrieb der Atomreaktoren zu gewährleisten, wurde 1970 Pripjat gegründet: der Wohnort für zahlreiche Arbeiter, Wissenschaftler und Familienangehörige. Am gleichnamigen Fluss gelegen, wurde die Siedlung nur drei bis vier Kilometer von den Kernreaktoren entfernt errichtet. Damit liegt Pripjat heute mitten in der unbewohnbaren Sperrzone von Tschernobyl. Wenige Jahre später (1979) erwarb Pripjat vom Obersten Sowjet die Stadtrechte und die Entwicklungspläne sahen vor, Pripjat für 75.000 Menschen auszubauen. Zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe hatte Pripjat bereits 49.400 Einwohner.

Aufgrund des katastrophalen Notfallmanagements wurde Pripjat erst 36 Stunden nach dem Reaktorunfall evakuiert. Die Bevölkerung wurde im Glauben gelassen, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Realität war eine andere und als Ersatz für Pripjat wurde nach der Katastrophe die Stadt Slawutytsch errichtet. Die kontaminierte Zone wird bis heute von der Armee bewacht und nur wenige Menschen wohnen im Gebiet rund um den Reaktor. Die meisten von ihnen sind Armeeangehörige, Wissenschaftler oder illegale Rückkehrer.

Slawutytsch

Nach der Evakuierung von Pripjat wurde schnell klar, für die ehemaligen Arbeiter und Familien am Standort Tschernobyl musste eine neue Wohnstadt her. Im Osten, unweit der Sperrzone, wurde Slawutytsch als Ersatz für die Stadt Pripjat errichtet. Im Sommer 2002 habe ich Slawutytsch, die Stadt mitten im Nichts, zum ersten Mal besucht. Eine lange, fast schnurgerade Asphaltpiste führt durch den dichten Wald nach Slawutytsch. Das ist der einzige Weg in die Stadt und die Zufahrtsstraße ist so breit, hier könnte bequem ein Flugzeug landen.

Die belarussische Grenze ist nur ein Katzensprung weit entfernt. Im April 1986, im Jahr der Reaktorkatastrophe, war das alles noch die Sowjetunion. Heute trennt eine schmale belarussische Landzunge die Städte Slawutytsch und Tschernobyl. Dafür verbindet eine 1986 erbaute Eisenbahnlinie Slawutytsch und Tschernobyl, durchs belarussische Staatsgebiet. Die Einwohner der Stadt Slawutytsch leben nach wie vom Atomkraftwerk Tschernobyl. Das zerstörte Kraftwerk sichert ihnen einen für die Ukraine relativ hohen Lebensstandard. Was allerdings nach dem Abschalten der letzten Meiler nicht mehr für jeden Arbeiter gilt. Trotzdem, das Kraftwerk wird für die nächsten Jahrzehnte eine Baustelle bleiben.

Slawutytsch – eine wirklich merkwürdige Atmosphäre, die Stadt wirkt auffallend klinisch. In Slawutytsch haben verschiedene Regionen aus der Sowjetunion „schnelle“ Aufbauhilfe geleistet: Häuser von Arbeitern aus dem Baltikum oder Häuser von Arbeitern aus ganz anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion. Tschernobyl war eine sowjetische Katastrophe und wurde mit dem Zerfall des Reiches zu einer ukrainischen und belarussischen Katastrophe. Wie auch immer: Die unterschiedlichen Baustile stehen direkt nebeneinander und ergeben ein bizarres Stadtbild.

Neben mehrstöckigen „typisch osteuropäischen“ Wohnburgen stehen kleine Einfamilienhäuser. Eine recht ungewöhnliche Kombination in einer sowjetischen Stadt. Überhaupt ist alles hier so sauber, so aufgeräumt. Als ob man mit der Sauberkeit die Radioaktivität aus der Stadt halten wollte. Mit verbundenen Augen hier abgestellt, die Ukraine hätte ich nicht gleich erkannt.

Auf dem zentralen Platz (der zentrale Platz in Slawutytsch wurde im Wesentlichen dem zentralen Platz in Pripjat nachempfunden) stehen zwei Gedenksteine: Der eine Stein (etwa 3 Meter lang), ein großes Bild, wo ein Wissenschaftler (mit Kopf- und Mundschutz) zwei Stromkabel mit ausgestreckten Armen weit auseinanderhält. Die enden der Stromkabel blitzen. Das ist das Hauptmotiv. Als Teilmotiv sind ein Atomkraftwerk und eine Autokolonne (als Zeichen der Evakuierung?) zu sehen, ein Fluss – und alles ist mir nicht in der Erinnerung geblieben. Dazu folgende Inschrift in englischer und russischer Sprache: „Wir bauen die Welt neu auf“.

Der zweite Stein wirkt kaum besser: Gestalten in dunklen Schutzanzügen. Mit ihren Atemmasken sehen sie aus wie Soldaten im Atomkrieg. Ein \“Soldat\“ mit Schaufel und weißer Rose in den Händen, soll wohl Hoffnung verkünden. Und dazu die Inschrift: „Auferstanden aus der Asche des Alten“ – wieder in englischer und russischer Sprache. Spiegelt das die slawische Seele wider? Nein, ich denke diese Gedenksteine stehen für Auswüchse sowjetischer Technokraten.

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